So mancher dürfte sich die Augen gerieben haben eine Sekunde nach Mitternacht unserer Zeit, als vor 10 Downing Street die Klänge des Big Ben abgespielt wurden. Ist das jetzt wirklich gerade passiert?
Fakt ist: Nach teils nervenaufreibenden Jahren hat Großbritannien in der vergangenen Nacht die Europäische Union verlassen. Zu sagen, der Brexit sei „done“, also erledigt, ist aber mehr denn verfrüht: Aufarbeitung und Anpassung an die neue Situation nach 47 Jahren werden beide Seiten wohl Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte beschäftigen.
„Wofür wollen wir stehen in der Welt?“
Dabei deutet einiges darauf hin, dass der Selbstfindungsprozess im Königreich noch ganz am Beginn steht. Glaubt man den Schilderungen eines ehemaligen Beraters von David Cameron, jenem Premierminister der den Brexit ungewollt zum politischen Auftrag werden ließ, war das United Kingdom bisher lediglich darauf konzentriert, über den Hebel des Brexit Souveränität und Einwanderungskontrolle zurückzugewinnen. Entscheidende Fragen aber seien bisher überhaupt nicht diskutiert oder beantwortet worden: Wofür wolle man stehen in der Welt und damit welchen Beitrag leisten? Wie und mit welchen Zielen will sich das UK zukünftig zwischen USA, der EU, Russland und China positionieren? Es gebe „keinen Plan für die Außenpolitik“ lautete seine Analyse in der letzten Nacht.
Der Traum vom schnellen Deal
Zugleich beginnt nach Ansicht vieler Beobachter auch in wirtschaftlicher Hinsicht der Realitätstest für die britische Politik – und zeitverzögert auch ihre Bevölkerung. Zwar greift seit Mitternacht das Übergangsabkommen, so dass sich faktisch für Bürger und Unternehmen in Großbritannien und in der EU zunächst nichts ändert. Doch auf Wunsch der Regierung Johnson ist dieses bis Ende Dezember befristet und damit knapp bemessen. Experten halten es für kaum möglich, in so kurzer Zeit das zukünftige Verhältnis zwischen Königreich und Europäischer Union auszuverhandeln – zumal dies aufgrund der parlamentarischen Abläufe auf beiden Seiten wohl bereits bis Juli geschehen müsste, um die Frist einhalten zu können. Boris Johnson will dabei die EU durch Härte unter Zeitdruck setzen: gebe es bis Ende 2020 kein neues Handelsabkommen, werde man eben den „harten Brexit“ vollziehen, also Drittland nach WTO-Status werden; Verlängerungen des Übergangsabkommens seien ausgeschlossen. Selbst britische Beobachter hielten es aber in Gesprächsrunden auf der BBC gestern für durchaus vorstellbar, dass beispielsweise noch nicht verhandelte Punkte am Ende doch eine verlängerte Übergangszeit erhalten könnten, wenn die Zeit davonläuft.
Freiheit oder Zwickmühle
Zumal eine Wirtschaftsexpertin in diesen Gesprächen einen interessanten Punkt aufwarf: Die nun von Großbritannien angestrebten Wirtschaftsverhandlungen mit den USA, der EU oder Japan (zweifellos aber auch China und Indien) seien im Dreiecksverhältnis zu sehen. Es sei zum Beispiel gut möglich, dass die USA für ein Handelsabkommen Forderungen stellen, deren Umsetzung im Königreich wiederum für die EU als Handelspartner inakzeptabel wären – man denke nur an Sicherheits- oder Qualitätsstandards im Bereich der Agrargüter oder medizinischen Produkte. Zieht man dies noch mit in Betracht, wird deutlich, wie ambitioniert das Ziel eines neuen Handelsabkommens zwischen London und Brüssel bis Ende des Jahres ist.
England und Wales gegen Schottland und Nordirland?
Eine der größten Sorgen im Königreich aber dürfte sein, dass der Brexit das United Kingdom am Ende doch vor eine Zerreißprobe stellt. Zwar ist das bereits gestern aus Schottland geforderte neue Unabhängigkeitsreferendum von der Zustimmung des britischen Premierministers abhängig – und Boris Johnson lehnt dies bisher rundweg ab. Es bleibt jedoch abzuwarten, wie gerade die „Remainer-Regionen“ Schottland und Nordirland, die nicht austreten wollten, den Verlauf der Verhandlungen und die tatsächlichen politischen und wirtschaftlichen Auswirkungen des Brexit mit der Zeit für sich bewerten. Beobachter rechnen bereits damit, dass die Übergangsphase Nordirland und Irland eher weiter aufeinander zu bewegen wird. Und je nach Verhandlungsergebnis mit der EU könnte zudem die Frage einer harten Grenze neu entflammen.
„Da waren’s nur noch 27“
…titelte gestern ein Kommentar im Handelsblatt. Und auch diese 27 sehen sich nun einer Vielzahl noch unbeantworteter Fragen gegenüber. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte schrumpft die Europäische Union – und gleich um eines der gewichtigsten Mitglieder. Allein die laufenden Verhandlungen für den Finanzhaushalt der EU vor dem Hintergrund gleichzeitig wachsender Herausforderungen werden damit zum Kraftakt. Gestern zeichnete sich erstmals vorsichtige Bewegung ab: Deutschland signalisierte die grundsätzliche Bereitschaft, seine Zahlungen zu erhöhen. Dieses Signal wird nun noch so manch anderem Mitglied entlockt werden müssen.
Und während ab Montag unter hohem Zeitdruck mit Großbritannien verhandelt werden muss, ist das Handelsabkommen mit dem südamerikanischem Staatenbund Mercosur zwar verhandelt, aber noch lange nicht beschlossen. So mancher erinnert sich sorgenvoll an ein eigentlich fertiges TTIP-Abkommen mit den USA, welches dann in sich zusammenfiel.
Klar ist: Mit dem Austritt des Vereinigten Königreichs verliert die Europäische Union nach außen an Gewicht – nach Köpfen und nach Wirtschaftskraft. Im Inneren wächst der Einfluss der Eurozonen-Länder gegenüber jenen, die bisher auf den Euro verzichten. Manche erwarten, dass dies innerhalb der Europäischen Union die Attraktivität erhöht, auch Euro-Mitglied zu werden. Und Deutschland verliert mit Großbritannien einen wichtigen Mitstreiter in Sachen liberaler Wirtschaftsordnung anstelle von staatlicher Regulierung.
Vor allem aber verliert die Europäische Union ein militärisches und sicherheitspolitisches Schwergewicht. Zwar ist damit zu rechnen, dass britische und EU-Sicherheitsinteressen auch zukünftig oft in dieselbe Richtung weisen werden, dies muss aber keineswegs immer gelten. Insbesondere die Zusammenarbeit der Polizeien und Nachrichtendienste, auf die die EU-Staaten angewiesen sind, muss neu geregelt werden. Allerdings könnte sich dies schwierig gestalten, wenn Boris Johnson seinen Wahlkampfversprechen treu bleibt – darauf wies ein britischer Politikwissenschaftler gestern auf phoenix hin: Denn sollte Großbritannien ernst damit machen, die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nicht anzuerkennen, wäre eine Zusammenarbeit von EU- und britischen Diensten und Behörden sicherheits- und datenschutzrechtlich kaum möglich.
Der Brexit ist also „far from done“, sondern hat gerade erst begonnen. Für die Wirtschaft wird es Antworten auf entscheidende Fragen frühestens in ein paar Wochen, möglicherweise aber auch erst viel später geben. Entsprechend abwartend verhielten sich zuletzt die Finanzmärkte. Folgt das Königreich am Ende doch eher dem Modell von Island, Liechtenstein, Norwegen und Schweiz – oder neigt es mehr Richtung Konfrontation zur EU, beispielsweise mit Steuerdumping und massiver Deregulierung der Finanzbranche im Streben nach einem „Singapur an der Themse“?
Uns erwarten spannende Monate und die Verhandler zweifellos lange Nächte. (mhs)